18.08.2021

Warum Winterthurs (Stadt-)Jugend die Motivation für eine Lehre fehlt

Ab August fängt für viele Jugendliche ein neuer Lebensabschnitt an. Dabei peilen immer weniger in der Stadt Winterthur wohnhafte Junge eine Berufslehre an, sondern gehen ans Gymnasium – ganz im Gegenteil zu ländlichen Gebieten. Welches sind die Gründe dafür? Ist das Erfolgsmodell Lehre nicht mehr attraktiv genug?

Das duale Schweizer Bildungssystem ist in seiner Form einzigartig. Seine Durchlässigkeit und die Möglichkeit, durch eine Berufslehre früh ins Arbeitsleben zu starten, sind eine wichtige Zutat für die Wohlstandsformel der Schweiz. Die Zahl der Jugendlichen in der Berufslehre im Kanton Zürich hat im Jahr 2012 einen Höchststand erreicht, ab dann ist sie bis ins Jahr 2017 leicht gesunken. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler an der Mittelschule dagegen hat in den letzten 19 Jahren stetig zugenommen. Interessant dabei ist, dass sich die fortschreitende Akademisierung vor allem in den Städten manifestiert. In Landgemeinden wie Marthalen, Stammheim oder Flaach liegt die Maturitätsquote viel tiefer als in Winterthur (Quelle: Bildungsstatistik). Warum aber ist das ein Problem?

Mehrere Gesprächspartner des Forums Winterthur erklären, es sei für Betriebe schwer geworden, Lehrstellen mit motivierten und qualifizierten Lernenden zu besetzen. Im letzten Jahr blieben denn schweizweit auch rund 8000 Lehrstellen offen. Zwischen ländlichen und städtischen Gebieten tue sich ein Bildungsgraben auf. Viele Städter hätten keine Lust auf eine dreijährige Lehre in einem Betrieb. Dies ist keine gute Entwicklung, denn gerade die Durchmischung der Gesellschaft und die Anpassung der jeweiligen Laufbahn auf die individuellen Qualitäten von Schülern gehören zu den Stärken des dualen Bildungssystems. Die Kehrseite des Gymi-Booms ist, dass die Anzahl Studenten für den Markt irgendwann zu hoch ist und es Absolventen gewisser Studienrichtungen (wie z.B. einiger Geisteswissenschaften) noch schwerer fallen wird, Jobs zu finden.

«Lehrjahre sind keine Herrenjahre» - aber sie können für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutend sein
Klar ist, dass sich die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat. So ist zum Beispiel ein anhaltender Trend hin zu Individualisierung zu beobachten. Jugendliche möchten selbstbestimmt und flexibel bleiben. Sie wollen sich noch nicht auf ein bestimmtes Berufsbild festlegen und treffen lieber unverbindliche Entscheidungen, die einem alle Möglichkeiten offen halten – so wie das Gymnasium. Im Gegensatz dazu ist es heute nicht mehr vorstellbar, dass Lernende heute drei Jahre lang zum «Mädchen für alles» gemacht werden, so beispielsweise die Kaffeemaschine entkalken oder andere klassische «Ämtli» machen müssen – und das ist auch richtig so.

Es ist gewiss nicht nur schlecht, dass die persönliche Freiheit des oder der Einzelnen in den letzten Jahren stark an Wert gewonnen hat. Doch wichtige Entscheidungen mitsamt deren Konsequenzen zu treffen, kann junge Menschen schnell reifen lassen. Und wer sich an seine Lehre zurückerinnert, der weiss, dass es meist nicht schadet, sich eine Zeit lang unterzuordnen. Beispielsweise lernt man so früher, welche unbeliebten Arbeiten für viele Leute zum Alltag gehören. Früh ist man gezwungen, verschiedene Lebensbereiche nebeneinander unter einen Hut zu kriegen. Neben praxisorientierter Bildung, die bei der richtigen Wahl genau den Interessen und/oder Fähigkeiten der Lernenden entspricht, lernt man auch, Verantwortung zu übernehmen und mit Teamkolleg*innen umzugehen, die weitaus erfahrener sind als man selbst. Dies führt oft zu einer frühen und gesunden Persönlichkeitsentwicklung, die eine Kantonsschule nicht bieten kann. Daneben ist nicht zuletzt der Umgang mit Geld ein wichtiger Punkt, den eine Lehre bietet.

Das Schöne am Schweizer Bildungssystem ist, dass jeder und jede das tun kann, was ihr oder ihm am ehesten entspricht. Natürlich ist eine Lehre nicht für alle ideal. Aber je nach Person können diese Vorteile genauso viel – oder sogar mehr – wert sein wie jahrelange theoretische Bildung. Langfristig wäre wieder eine ausgewogenere Mischung wünschenswert, nicht nur für die Betriebe, die Lernende suchen, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Hervorzuheben ist auch, dass sowohl für Mädchen als auch Jungen in allen Bereichen aussichtsreiche Lehren zur Verfügung stehen, gerade auch in den hochattraktiven MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik).

Man sollte sich auch in einer zunehmend akademisierten Stadt Winterthur Gedanken machen, welche der vielen Möglichkeiten für Jugendliche wirklich die beste ist. Auch bei einer Entscheidung für die Lehre ist eine tertiäre Ausbildung durchaus möglich und kann letztlich geeigneter sein. Damit sind Eltern, Lehrpersonen, aber nicht zuletzt auch die Schulpflege und die Politik gefordert. Die Lehre muss als das gehandelt werden, was sie ist: eine attraktive und interessante Grundbildung mit vielseitigen Perspektiven. Denn es soll auch weiterhin gelten: Die Lehre ist kein Auslauf,- sondern ein Erfolgsmodell.

red/MS

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